Ilona Einwohlt im Interview mit kapiert.de:

Ilona Einwohlt kennt Ihr schon als Kinder- und Jugendbuchautorin von Wild und Wunderbar. Ihr besonderes Interesse gilt der Emanzipation von Mädchen und der Frage, mit welchem Rollenverständnis sich Mädchen heutzutage konfrontiert sehen und wie sie damit umgehen können. In ihrem neuesten Roman Uncovered erzählt die Autorin eindrücklich, wie im Spiel mit sexy Bildern schnell die Grenzen verwischen. Es geht um das Thema Sexting - die private Kommunikation sexueller Themen über Messenger Dienste. Zum Sexting gehört neben intimen Nachrichten auch das Verschicken von Nacktfotos- oder Nacktvideos.

Worum geht es im Roman?

Milan ist der coole Schwarm der Schule und hat sich auf eine Wette mit seinem Kumpel Tobias eingelassen. Im Bitch-Bingo sammeln die Jungs freizügige Fotos der Mitschülerinnen. Ein Bild von der selbstbewussten Ella soll Milan bei seinem Kumpel den Bad-Boy-Titel sichern. Ella ist neu an der Schule und so ganz anders als die anderen Mädchen, die Milan bisher um den Finger gewickelt hat. Als es zwischen den beiden funkt, schickt Ella ihm ein „relativ“ harmloses Selfie. Milan hat sich allerdings in Ella verliebt und diese bescheuerte Wette ist für ihn fast Geschichte. Überhaupt teilt er nicht die Einstellung seines Freundes, Mädchen als „Objekte“ zu betrachten. Dennoch schickt er das Bild Tobias, der das Foto bearbeitet und dieses als Kommentar in Ellas twitter Account veröffentlicht … mit fatalen Folgen.

Kapiert.de: Frau Einwohlt, Sie haben in Ihrem neuen Buch ein so wichtiges und aktuelles Thema aufgegriffen. Die jungen Mädchen, die ich kenne, gehen mit Ihren Fotos durchaus sensibel um, sind sich der Gefahren bewusst – soweit es um öffentliche Netzwerke geht. Obwohl ich die meisten Mädchen für auf- und abgeklärt halte, Naivität oder Unwissenheit ausschließen würde, frage ich mich, was die Mädchen veranlasst, in Messenger Diensten so offenherzig und sorglos mit intimen Bildern umzugehen?

Sind sie wirklich sorglos oder setzen sie sich in ihren Selfies bewusst in Szene? Ich erlebe Mädchen gegenwärtig selbstbewusst und stark, mit einem klaren Blick auf sich, ihre Bedürfnisse und ihre Anliegen. Der Blick durch die Handykamera ist ein selbstermächtigender, weiblicher Blick auf den eigenen Körper, ein Erleben als Subjekt und nicht als Objekt männlicher Begierde. Das ist ein Unterschied! Die Perspektive ist immer auf Augenhöhe und nicht von oben nach unten wie bei der männlichen Kameraführung, wie wir sie aus Filmen und Werbung kennen. Von daher finde ich diese Selfieposen sehr stark. Hier hat längst ein Perspektivwechsel stattgefunden, dem wir nicht mit Klischees begegnen sollten. Ich sehe hierin eine Chance, eine ernstzunehmende Antwort auf die Frage „Für wen machst du dich wirklich schön?“ zu erhalten.

Kapiert.de: Interessant finde ich im Roman auch den Ansatz, dass nicht nur Ella als Opfer dargestellt wird, sondern auch Milan in die Opferrolle schlüpft. Dadurch, dass er intime Fotos von sich selbst an seinen Freund verschickt hat, macht er sich angreifbar und erpressbar. Das Thema ist also nicht nur ein typisches Mädchenthema?

Nein, wieso? Sexting geht durch alle Geschlechter und Generationen und einvernehmliches Sexting ist wie einvernehmlicher Sex, also völlig in Ordnung. Problematisch wird’s, wenn die Privatsphäre verletzt wird, wenn private und intime Fotos mit Menschen geteilt werden, für die sie nicht gedacht waren. Das ist nicht nur verwerflich, sondern auch strafbar! Und Nein heißt auch hier: Nein. Das gilt für alle Geschlechter! Mir war es wichtig zu zeigen, dass hier die Grenzen verwischen und nicht automatisch Mädchen die Opfer sind, weil dieses Rollenbild in unserer Gesellschaft verankert ist. Wir müssen weg vom victim blaiming hin zu denen, die sich falsch und fahrlässig verhalten haben und die Täter in die Verantwortung nehmen. Wir müssen hier umformulieren: Nicht: „Frauen sind nicht Opfer von sexueller Gewalt“ sondern „Es ist Gewalt von Männern gegen Frauen.“

Kapiert.de: Die Reaktionen auf das veröffentliche und bearbeitete Foto von Ella sind ganz unterschiedlich. Ganz typisch ist aber eine Reaktion – die von Milans Eltern: natürlich liegt die Schuld beim Mädchen - der arme Junge wurde bestimmt verführt! Eltern wollen oft nicht wahrhaben, dass ihre kleinen Lieblinge sich anzügliche Bilder zuschicken. Sind die Eltern zu wenig im Thema? Oder wollen sie sich damit nicht auseinandersetzen?

Beides. Die Sexualität der eigenen Kinder ist für manche Eltern oft schwer wahrzuhaben. Gestern spielten sie noch im Sandkasten, und heute? Ich glaube, Eltern haben vergessen, wie sie selbst mit 14, 15, 16 waren und wie sie sich und ihre eigene Sexualität und das andere Geschlecht entdeckt haben, wie wild sie selbst einst auf Partys unterwegs waren … Ich wünsche mir hier mehr Gelassenheit und Offenheit in beide Richtungen. Elternsex ist für Kinder auch peinlich. Ich behaupte, gerade weil wir so ein verkrampftes Verhältnis zu Gefühlen, Körperlichkeit und Sexualität haben, suchen sich Kinder und Jugendliche ihre Antworten im Netz statt im geschützten Raum der Familie oder auch untereinander. Von Schule und Aufklärungsunterricht mal ganz zu schweigen.

Kapiert.de: Natürlich wollen Teenager nicht mit den Eltern über das Thema Sex reden… Was würden Sie Eltern mitgeben? Wie geht man auf die Testosteronbolzen, die sich innerhalb ihres Freundeskreises beweisen wollen, zu? Wie lehrt man Respekt vor Mädchen und Frauen, ihren Körpern und ihrer Sexualität in einer Medienwelt, die voller sexualisierter Körperbilder ist?

Kommunikation auf Augenhöhe. Gegenseitige Wertschätzung. Vertrauen haben. Gute Vorbilder sein. Alltagsexismus thematisieren. Feministische Statements feiern. Toxische Männlichkeit aufzeigen. Jungs in ihren Gefühlen bestätigen. Pornos als Fake-News begreifen. Die Rosa-Hellblau-Falle entlarven. Gute Körperwahrnehmung schulen.. Weg von Äußerlichkeiten hin zu inneren Werten. Gesellschaftliche Hintergründe erkennen (Geschichte! Industrie! Konsum!) Und ganz klar solche Shows, Videos meiden bzw. diese als Negativ-Beispiel kommentieren. Wir gucken hier zum Beispiel seit Jahren GNTM – um daraus zu lernen.

Kapiert.de: Und was sage ich zu meiner Tochter, die sich in der Pubertät gerade jetzt abkapseln und sich gegen die Eltern auflehnen möchte und sowieso schon von den spießigen Eltern genervt ist, wenn es um die viel zu kurze Shorts oder das knappe bauchfreie T-Shirt geht?

Du bist toll, ich hab dich lieb!

Kapiert.de: Warum ist Sexting in Ihren Augen auch ein wichtiges Thema in den Schulen? Wo können Lehrer und Lehrerinnen unterstützen? Auf dem SID am 9. Februar wird das thematisiert und Schulklassen sind herzlich eingeladen. Unterstützt wird die Veranstaltung der JUUUPORT Scouts, eine Initiative von Jugendlichen für Jugendliche. Welche Stellen würden Sie noch empfehlen?

Schule ist mehr denn je Lebens- und Sozialraum von Kindern und Jugendlichen. Da bleiben Konflikte nicht aus und wenn der Schulfrieden gefährdet ist, müssen die Lehrkräfte reagieren. Deswegen gehört das Thema Sexting dort ebenso hin wie Mobbing oder Drogen. „Uncovered“ ist eine gute Chance, mit den Jugendlichen darüber ins Gespräch zu kommen.

Mit Juuuport haben wir eine großartige Initiative an der Seite. Das peer-to-peer -Projekt ist eine sehr gute Möglichkeit, Bewusstsein für Gefahren und Folgen zu schaffen und somit ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln im Netz zu entwickeln.

Generell würde ich mir wünschen, dass sich Eltern ernsthaft für die Lebenswelten ihrer Kinder interessieren und mit ihnen sprechen (nicht reden!): Was bedeuten Soziale Medien für dich? Was erlebst du dort? Das Gespräch und der Austausch sind wichtig für ein vertrauensvolles Miteinander, das nur auf Augenhöhe gelingen kann.

VIELEN DANK, Frau Einwohlt :-)

Ilona Einwohlt wollte eigentlich Ernährungswissenschaftlerin werden. Aber dann las sie mitten in der Chemievorlesung Simone de Beauvoir, Julio Cortázar und Thomas Mann – und widmete sich fortan der Literatur. In ihren Romanen geht es immer um aktuelle Themen mitten aus dem Leben, denn mit Interesse, Kritik und Leidenschaft verfolgt sie die gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit. Ilona Einwohlt, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Darmstadt.

Die Autorin ist als Bildungsreferentin für das Institut für Medienpädagogik und Kommunikation Hessen e.V (MuK) regelmäßig mit Workshops und Vorträgen unterwegs, insbesondere zu Themen wie „Rollenklischees und Sexismus in den Medien“ und „Digitale Identitäten“. Für das Projekt „Haus der digitalen Medienbildung“ führt sie zudem Veranstaltungen und Beratungen für Eltern und Jugendliche in Darmstadt durch.

Mehr zum Titel Uncovered

 

Aufgepasst: Am 9.2.2021 ist Safer Internet Day

Sexting, Selfies & Social Media: Ein digitales Event für Schulklassen

Am 9.2. ist Safer Internet Day! Passend dazu präsentiert Autorin Ilona Einwohlt um 10 Uhr ihren neuen Roman „Uncovered. Dein Selfie zeigt alles“ im Gespräch mit einem Scout der Online-Beratungsplattform Juuport. Gesendet wird aus der Centralstation Darmstadt, alle Infos zur Veranstaltung finden Sie hier. Der Eintritt ist frei. Die Teilnahme ist für alle Schulklassen ab Klasse 8 weltweit möglich: Bitte melden Sie sich bei tanja.sorger@​centralstation-darmstadt.de an und erhalten dann den Zugangslink zu bigbluebutton.

In Kooperation mit dem Arena Verlag, Würzburg und JUUUPORT, die sich gegen Cybermobbing einsetzen: www.juuuport.de
Mit freundlicher Unterstützung vom Haus der digitalen Medienbildung (www.hddm-darmstadt.de).
Weitere Informationen zum Safer Internet Day am 9.2.: www.klicksafe.de/ueber-klicksafe/safer-internet-day/sid-2021/

Wir empfehlen Undercovered als Klassenlektüre zu den Themen Sexting / Cybermobbing / Zivilcourage / Rollenbilder. Die passenden kostenlosen Unterrichtsmaterialien findet ihr hier und ein Veranstaltungskonzept für Schulklassen in Zusammenarbeit mit JUUUPORT e. V. unter der Webseite der Jugendinitiative www.juuuport.de.