Tough trotz Tics – Das Tourette-Syndrom
Liza sitzt im Klassenraum. Mit erschöpftem Blick zieht sie sich ihre Kapuze über den Kopf. Für einen Moment ist alles ruhig in ihrem persönlichen Schutzwall, bis Luzifer wieder zuschlägt. Luzifer, so nennt sie ihre kleinen Aussetzer, die sie tagtäglich begleiten und ihr das Leben schwermachen. Denn sobald Luzifer zum Vorschein kommt, ist Liza mal wieder dem Gelächter einer ganzen Klasse ausgesetzt und weiß sich kaum zu wehren.
Tatsächlich existiert Liza nicht wirklich: sie ist eine der Hauptfiguren in Tom Limes neuem Jugendroman „Voll verkackt ist halb gewonnen“, welches am 18. Juni im Arena Verlag veröffentlicht wird.
Hier geht es nicht nur um Liza, sondern auch um Julian, Tariq und Max. Die vier Charaktere entsprechen nicht den gesellschaftlichen Normen unseres Schulsystems. Sie alle sind Außenseiter und versuchen als Gemeinschaft zu funktionieren und Stärke zu zeigen.
Durch häufige Perspektivwechsel und einen nahbaren Ich-Erzähler lässt Tom Limes den Leser an den Problemen der Gruppe teilhaben. Insbesondere Lizas Krankheit, das Tourette-Syndrom, wird hier genauer beleuchtet. Die Geschichte vermittelt einen Eindruck, wie sehr Betroffene auch unter Mobbing zu leiden haben. Denn Limes Thematik ist keinesfalls fiktiv: eine solche Diskriminierung passiert tagtäglich in unserer Gesellschaft.
Ab 18. Juni erhältlich: „Voll verkackt ist halb gewonnen“ von Tom Limes
Was genau ist das Tourette-Syndrom eigentlich?
Beim Tourette-Syndrom handelt es sich um eine neuropsychiatrische Krankheit, bei der die Betroffenen sogenannte Tics entwickeln. Solche Tics sind automatische Bewegungen, Laute oder Äußerungen, die kaum oder nur geringfügig kontrolliert werden können. In Deutschland besitzt knapp 1% der Bevölkerung dieses Handicap.
Menschen, die am Tourette-Syndrom erkrankt sind, werden in ihrer Lebensweise massiv eingeschränkt und müssen häufig mit Ausgrenzungen aus ihrem sozialen Umfeld rechnen. Insbesondere Kinder und Jugendliche werden oftmals diffamiert, obwohl sie in den meisten Fällen geistig und körperlich genauso leistungsstark sind.
Tourette wird in den Köpfen vieler Menschen häufig darauf beschränkt, dass man unkontrolliert vulgäre Sprache verwendet und Schimpfwörter laut ausspricht. Diese sog. Koprolalie betrifft allerdings nur rund 10% der Betroffenen und ist somit nicht repräsentativ für das gesamte, komplexe Krankheitsbild. Der Fall der Protagonistin Liza macht dies im Roman nochmal deutlich.
Arbeit mit „Schulfrustgeplagten“
Um genau solche Fälle kümmert sich auch Autor Tom Limes- und das schon seit über 20 Jahren. Im Interview mit kapiert.de spricht er davon, dass Jugendliche, die auch nur minimal von der Norm abweichen, oftmals als „nicht passend oder gar nutzlos“ stigmatisiert werden. Sowohl ein reformiertes Bildungssystem als auch die Bekämpfung von Intoleranz seitens der Schüler, Lehrer und Eltern seien hier notwendig. Nur als kleiner Denkzettel: pro Jahr verlassen 50.000 Jugendliche in Deutschland die Schule ohne Abschluss.
Im Alltag unter die Arme greifen
Es ist also dringend Aufklärungsarbeit, insbesondere beim „Tourette-Syndrom“, nötig. Einer, der diese Arbeit leistet, ist Jean-Marc Lorber. Auch er wurde insbesondere in seiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann häufig diskriminiert und ging durch schwere Zeiten. Aber auch heute noch muss Lorber mit schiefen Blicken und Ablehnung rechnen, da er häufig auf sein Handicap reduziert wird. Der Musiker ist seit seinem neunten Lebensjahr am Tourette-Syndrom erkrankt und hat neben mehreren TV-Auftritten bereits ein Hörbuch veröffentlicht. Zudem engagiert er sich in mehreren gemeinnützigen Vereinen wie z.B. in der Tourette Gesellschaft Deutschland e.V. und im Interessenverband Tic & Tourette Syndrom e.V. Lorber leitet außerdem gemeinsam mit seinem Partner eine eigene Selbsthilfegruppe in Stuttgart. Dort sprechen sie den Betroffenen Mut zu und versorgen sie mit Informationen zu ärztlichen Adressen und Behandlungsmethoden. Aber Jean-Marc möchte auch Unwissende aufklären und besucht sowohl Schulen als auch Messen, um endgültig mit veralteten Klischees aufzuräumen.
Aufklärer und Mutmacher: Musiker Jean-Marc Lorber
TIPP: Tourettecast Deutschland: In diesem klären Tourettebetroffene und Musiker wie Jean-Marc gemeinsam und mit Gästen aus der Tourette Szene reflektiert auf. Aufgrund der großen Nachfrage bereits in Folge 3.
Mit Tourette zum YouTube-Phänomen
Der 20-jährige Jan Zimmermann hat, wie die Hauptfigur Liza, ebenfalls einen Namen für sein Tourette: Gisela. Gemeinsam mit seinem besten Freund Tim führt er den YouTube-Kanal „Gewitter im Kopf“, welcher innerhalb kürzester Zeit 1 Millionen Abonnenten erreichen konnte. Der Social Media-Star möchte seine Zuschauer an seiner Krankheit teilhaben lassen und plädiert ebenfalls dafür, dass man über seine Krankheit auch lachen kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Die Meinungen bezüglich dieses Kanals gehen hier weit auseinander: Während viele User Lob für seine Offenheit und seinen Humor aussprechen, steht beispielsweise Jean-Marc dem Hype eher kritisch gegenüber: „Ich finde humorvolle Aufklärung ganz klar wichtig, allerdings ist es noch wichtiger darauf zu achten, sich nicht zum Spielball zu machen und ab einem gewissen Punkt nicht mehr ernst genommen zu werden. Diese Grenze gilt es zum Wohle aller Betroffenen und diskriminierten Menschen zu bewahren!“.
Jean-Marc sowie den drei Tourette-Vereinen ist die Art und Weise wie Jan sein Tourette präsentiert zu unseriös und klischeebehaftet - sie haben sich öffentlich in einer Stellungnahme von Jans YouTube Auftritten distanziert.
Aber auch hinter Jans Kanal steht letztendlich eine gute Intention: er möchte den Menschen zeigen, dass er sein Leben meistern kann- egal, ob Gisela nun zum Vorschein kommt oder nicht.
Unterschiedliche Maßnahmen, gemeinsames Ziel
Und so unterschiedlich man auf dieses Thema auch aufmerksam machen kann: am Ende wollen Tom, Jean-Marc und Jan einen offenen und toleranten Umgang mit dem Tourette-Syndrom erzielen. Schließlich gibt es keinen einzigen Grund, sie in irgendeiner Form auszugrenzen. Denn auch Luzifer und Gisela sind ein Teil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Bildquellen:
- © jarmoluc / pixabay.com
- Arena-Verlag / tom-limes.de
- Jean-Marc Lorber
Weitere Quellen:
- Artikel Süddeutsche Zeitung: Tourette hat eben nichts mit Arschloch zu tun
- kapiert.de-Interview mit Tom Limes
- YouTube-Kanal „Gewitter im Kopf"
- Tourettecast Deutschland
- Hörbuchtipp: Tourette in my head
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