Was sind Anekdoten?

In der Zeitung oder in Textsammlungen findest du manchmal eine sehr kurze Erzählung, die von einer bekannten Persönlichkeit, zum Beispiel von einem Politiker, einem Sportler oder einem Schriftsteller handelt.

Die bekannte Person befindet sich in einer außergewöhnlichen Situation, in der sie sich häufig auf witzige und geistreiche Weise äußert oder handelt.

So kommt eine besondere menschliche Eigenschaft der Hauptfigur zum Vorschein: Schlagfertigkeit, Geiz, Neugier, Cleverness, Tollpatschigkeit, Humor …

Diese Erzählform wird als Anekdote bezeichnet.

Eine Anekdote über den französischen Kaiser Napoleon

Schau dir einmal die folgende Anekdote an:

Akzeptanzprobleme (1792)

Napoleon Bonaparte war ziemlich klein. Da er schon relativ jung General wurde, fand er bei seinen Unterbefehlshabern, die älter und größer waren als er, nicht immer den nötigen Gehorsam. Als sich einmal General Kleber widerspenstig zeigte, trat Napoleon an ihn heran und sagte: “General, Sie sind um einen Kopf größer als ich. Aber noch einmal nicht bedingungslos gehorcht, und dieser Unterschied wird verschwinden!“ Das half, und General Kleber gehorchte.

Shutterstock.com/Everett Collection

Napoleon Bonaparte (1769-1821)
General der Revolutionsarmee und später französischer Kaiser. Während der Französischen Revolution (1789-1799) wurde vielen Verurteilten der Kopf mit dem Fallbeil (Guillotine) abgeschlagen.

Typische Merkmale

Die Anekdote Akzeptanzprobleme weist typische Merkmale auf:

• eine kurze Erzählform:
  Akzeptanzprobleme (1792) enthält nur wenige Zeilen.
• Hauptperson meist eine bekannte historische Persönlichkeit:
  Napoleon, General der Revolutionsarmee und französischer Kaiser
• Hauptperson gerät in eine außergewöhnliche Situation:
  Der Kaiser, gewohnt, dass seine Befehle ohne Widerspruch befolgt werden, trifft auf den widerspenstigen untergebenen General Kleber.
• Hauptperson mit einer besonderen Eigenschaft, einem auffälligen Charakterzug:
  Indem Napoleon dem General ankündigt, dass er den Größenunterschied ganz schnell verschwinden lassen könnte, erinnert er den General an das Schicksal vieler adliger Franzosen, die zu dieser Zeit geköpft worden sind.
• witziger unerwarteter Ausgang der Situation, die Pointe:
  Der kurze Hinweis, was mit ungehorsamen Gefolgsleuten geschehen ist und geschehen wird, nämlich dass sie geköpft werden und so der „Größere“ ganz schnell erheblich kleiner wird.

Epische Kurzformen

Unter dem Begriff „Epik“ wird die literarische Gattung verstanden, die sich mit der Erzählung befasst. Die Epik lässt sich in verschiedene Formen unterteilen:

• Großformen (z. B. Roman)
• Kleinformen (z. B. Märchen, Fabel, Schwank, Anekdote, Kalendergeschichte, Kurzgeschichte, Sage)

Die epischen Kleinformen haben alle typische Merkmale, die sie voneinander unterscheiden.

Abgrenzung zur Kalendergeschichte

Auch bei der Kalendergeschichte handelt es sich um eine epische Kurzform.
Die Kalendergeschichte hat ebenfalls typische Merkmale.
Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede gibt es?

Gemeinsamkeiten zwischen Anekdote und Kalendergeschichte

• sehr kurze Erzählung

• unterhaltend

• belehrend
• Pointe

Merkmale der Kalendergeschichte im Unterschied zur Anekdote

• Im Hinblick auf das einfache Lesepublikum sind die Kalendergeschichten betont einfach geschrieben.

• Häufig enthalten sie am Ende eine Pointe, in vielen Fällen ist diese verbunden mit einer witzig verpackten Moral.