Eine Deutungshypothese formulieren
Ein Gedicht verstehen
Viele Gedichte erschließen sich erst nach sorgfältigem Lesen und Untersuchen. In der Regel entwickelt sich jedoch beim Lesen eines Gedichts ein erster Eindruck von Thema und Aussage des Gedichts.
Diesen Eindruck bestätigt, verändert oder widerlegt man durch intensives weiteres Lesen und Analysieren von sprachlichen und formalen Merkmalen des Gedichts. So kommst du am Ende zu einer schlüssigen Gesamtdeutung des Gedichts.
Die Deutungshypothese
Dieser erste Eindruck von Thema und Aussage des Gedichts formulierst du bei der Interpretation in Form einer Deutungshypothese.
Unter einer Hypothese versteht man eine Annahme, die noch nicht bewiesen ist. Es handelt sich also um eine Vermutung oder Behauptung, die zutreffen könnte.
Das Wort „Hypothese“ leitet sich vom lateinischen „hypothesis“ ab und bedeutet „Unterstellung“. In diesem Zusammenhang unterstellen wir folglich einem Text, dass er so oder so zu verstehen ist.
Teil der Einleitung
In der Einleitung einer Gedichtinterpretation nennst du die wichtigsten Textdaten (Textart, Autor/Autorin, Erscheinungsjahr), bestimmst kurz das Thema des Gedichts (worum es geht oder was dargestellt wird) und formulierst eine erste (vorläufige) Deutungshypothese.
Diese knapp (in wenigen Sätzen) formulierte Deutungshypothese ist also der Ausgangspunkt der Gedichtinterpretation. Sie dient dazu, Leserin und Leser eine Richtung vorzugeben, in die die Erschließung des Gedichts gehen soll. Man kann die Deutungshypothese also als „roten Faden“ für die im Hauptteil folgende detaillierte Analyse bezeichnen.
Die Deutungshypothese erweitern, korrigieren oder verwerfen
Mit der Deutungshypothese unterstellst du sozusagen, dass das Gedicht so zu verstehen ist. Mit der Interpretation versuchst du, diese Deutungshypothese als richtig und zutreffend zu beweisen.
Es ist aber durchaus möglich, dass am Ende die Deutungshypothese vertieft, erweitert, korrigiert oder sogar verworfen und ersetzt werden muss, ohne dass das als Fehler gilt.
Falsch wäre es nur, die Deutungshypothese unkommentiert stehen zu lassen.
Ein Beispiel
Lies das Gedicht und überlege, wie eine Deutungshypothese aussehen könnte.
Städter (1914)
Alfred Wolfenstein
Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken … wird Gegröle …
– Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.
Die Deutungshypothese zu „Städter“
Julius hat folgende Deutungshypothese zum Gedicht formuliert:
In dem Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein aus dem Jahr 1914 geht es um die Einsamkeit von Menschen in einer Großstadt, die trotz der dichten Besiedelung besteht.
Julius erkennt in seiner Deutungshypothese, dass
- es um das Leben in der Großstadt geht,
- die Menschen eng zusammenleben,
- die Menschen trotz der Enge einsam sind.
Nun gilt es, diese Hypothese in der Analyse zu bestätigen oder zu korrigieren.
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